Stellungnahme des Netzwerks Kinderrechte zu pädagogischer Gewalt in SOS-Kinderdörfern

Wien (OTS) – „Die Informationen über Gewalt an Kindern in
SOS-Kinderdörfern machen
uns tief betroffen. Umso mehr, als sie eine unserer
Mitgliedsorganisationen betreffen“, sagt Ernst Berger,
Kinderpsychiater und Kinderschutzbeauftragter und Mitglied des
Leitungsteams des Netzwerks Kinderrechte.

In einer Zeit, in der Kinderrechte seit fast 15 Jahren in der
Österreichischen Verfassung verankert sind und Kinderschutzkonzepte
in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen breit ausgerollt wurden –
natürlich auch bei SOS-Kinderdorf –, hatten wir gehofft, dass
derartige Meldungen der Vergangenheit angehören. Unsere Betroffenheit
ist auch deshalb so groß, weil wir wissen, welche langfristigen
Folgen derartige Gewalterfahrungen haben. Sie begleiten Kinder und
Jugendliche oft über viele Jahre und prägen manchmal den weiteren
Lebensweg entscheidend. Diese Vergangenheit ist jene Zeit, in der
Gewaltpädagogik den Alltag der Heimerziehung in ganz Österreich
geprägt hat. Ein Umstand, der mit dem Begriff „Heimskandal“ ab 2010
ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist. Die wissenschaftlichen
Studien¹ zu diesen Ereignissen zeigen, dass die sozialen Beziehungen
und Berufswege der betroffenen Kinder oft tiefgreifend beeinträchtigt
sind. Dieses Wissen ist eine der Quellen unseres Engagements für
Kinderrechte und Kinderschutz.

Dieses Engagement wird von SOS-Kinderdorf seit vielen Jahren
aktiv mitgetragen, was aber an der Verantwortung für die aktuellen
und kürzlich vergangenen Gewaltereignisse nichts ändert. „Diese
Verantwortung muss in erster Linie durch Unterstützung der
betroffenen Kinder wahrgenommen werden und ebenso gegenüber jenen
Kindern, die derzeit in Betreuung der SOS-Kinderdörfer stehen. Da
diese Kinder von der aktuellen öffentlichen Diskussion unmittelbar
betroffen sind, müssen sie aktiv in die Aufarbeitung und die
Reflexion von Kinderrechten eingebunden werden“, führt Berger weiter
aus.

Wenn wir die Frage stellen „Wie konnte das geschehen?“, ist auf
die chronisch unzureichende personelle Ausstattung
sozialpädagogischer Einrichtungen ebenso zu verweisen wie auf die
Tatsache, dass „schwierige Kinder“ und Kinder, die in Einrichtungen
leben, immer schon an den Rand der Gesellschaft gestellt wurden. In
diesem Zusammenhang ist der nochmalige Blick auf die gewaltgeprägte
Heimpädagogik vergangener Jahrzehnte nützlich. Die mediale
Berichterstattung über Gewalterlebnisse in kirchlichen und
staatlichen Heimen in den 1950er bis 1990er Jahren, die in Österreich
ab 2010 ein beachtliches Echo ausgelöst hat, hat immer mehr Menschen
veranlasst, die Erinnerungen an ihre Erlebnisse in Erziehungsheimen
wachzurufen und darüber – in unterschiedlichen Kontexten – zu reden.
Die Bereitschaft betroffener Institutionen (kirchlicher und
öffentlicher, aber auch privater Träger), in den Diskurs über die
historischen Ereignisse einzutreten, konnte erst durch den
öffentlichen Druck erreicht werden.

„Auch SOS-Kinderdorf hat erst im Gefolge dieser öffentlichen
Diskussion 2012 begonnen, sich mit der eigenen Geschichte durch
Erteilung eines Forschungsauftrages auseinanderzusetzen“, so Berger
weiter. Die Ergebnisse der
Forschung wurden 2014 publiziert². In dieser Aufarbeitung wurde klar,
dass die Strukturen und pädagogischen Konzepte, auf denen das Projekt
SOS-Kinderdorf aufgebaut wurde, von historisch überholten
Familienbildern und Autoritätsstrukturen geprägt wurden und einem
konservativen Gesellschafts- und Familienverständnis verpflichtet
waren. Dass diese historische Last in einer großen Institution
langfristig nachwirkt, ist ebenso verständlich wie bedauerlich. „Aber
das seit mehr als 20 Jahren wirksame Engagement von SOS-Kinderdorf
zur Überwindung dieses Erbes macht uns zuversichtlich, dass Kinder in
Zukunft wirksam vor Gewalt geschützt werden“, so Berger abschließend.

________________________________________________________
¹ Berger E., Katschnig Tamara: Gewalt in Wiener Heimen zwischen 1945
und 1990 – eine retrospektive Studie aus psychotraumatologischer
Perspektive. Neuropsychiatrie 2013, Volume 27, Issue 4, pp 188-195
² Horst Schreiber „Dem Schweigen verpflichtet – Erfahrungen mit SOS-
Kinderdorf“ 2014