80 70 30: Österreichs Neutralität zwischen Identität und Stagnation

Wien (PK) – Von „lebhaftem Beifall“ liest man oft, wenn man einen
Blick in die
Stenographischen Protokolle des Jahres 1955 wirft. Nach dem
Staatsvertrag folgte am 26. Oktober ein weiterer Meilenstein, der mit
Applaus gefeiert wurde: der Nationalrat beschloss das
Neutralitätsgesetz. Seitdem sind 70 Jahre vergangen und die
„immerwährende Neutralität“, wie sie im Verfassungsgesetz
festgehalten ist, hat mehrere Phasen durchgemacht. Wie es um das
Bekenntnis zur Neutralität heute steht und welche Debatte es über die
zukünftige Ausgestaltung braucht, hat die Parlamentskorrespondenz mit
dem Neutralitätsforscher Martin Senn besprochen. Er hat dafür auch
die aktuellsten Umfragedaten zur Verfügung gestellt.

Immerwährende Neutralität als Verfassungsgesetz

Am 26. Oktober 1955 , einen Tag nach Ende der Frist zum Abzug der
Besatzungstruppen und damit in der ersten Nationalratssitzung im
endgültig freien Österreich, beschloss der Nationalrat das
Neutralitätsgesetz. „Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner
Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines
Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende
Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden
Mitteln aufrechterhalten und verteidigen“, heißt es darin. Und:
„Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen
militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer
Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.“

Österreich legte seine Neutralität also von sich aus mit einem
Verfassungsgesetz fest. Dem vorangegangen waren zähe Verhandlungen
mit den Alliierten zum Staatsvertrag (siehe Parlamentskorrespondenz
Nr. 387/2025 ). Das Moskauer Memorandum, in dem Österreich seine
Absicht zur Neutralität festgehalten und die UdSSR im Gegenzug die
Zustimmung zum Staatsvertrag zugesichert hat, brachte den Durchbruch
zur Freiheit Österreichs. Aber die Neutralität ist nicht in einem
völkerrechtlichen Vertrag wie dem Staatsvertrag verankert, sondern in
einem innerstaatlichen Rechtsakt.

In vier Phasen hin zur Stagnation

Seit ihrem Beschluss vor 70 Jahren hat die Neutralität mehrere
Phasen durchlaufen, zeigt der Politikwissenschaftler Martin Senn in
seinem neuen Buch „Österreichs Neutralität“ auf. Zunächst die Phase
der Konsolidierung: Nach Abschluss des Staatsvertrags bis zirka zum
Jahr 1970 begann Österreich, eine international engagierte
Neutralität herauszubilden und trat etwa der UNO bei. Diesen Kurs
führte das Land bis in die Mitte der 1980er-Jahre weiter und
engagierte sich in der Phase der Expansion als Vermittler in
internationalen Konflikten. Prägend für diese Zeit war auch der Bau
der UNO-City in Wien in den 1970er-Jahren. Nach dem Ende des Ost-West
-Konflikts und durch den EU-Beitritt begann Österreich in einer Phase
der Reorientierung, die Neutralität differentiell auszurichten. Man
räumte sich Bereiche ein, in denen man die Neutralität aussetzen
konnte und beteiligte sich etwa an Sanktionen der Vereinten Nationen
und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Seit Mitte
der 2000er-Jahre sieht Senn eine Phase der Stagnation. Die politische
Debatte über das Wesen, den Wert, die Weiterentwicklung oder das
Widerrufen der Neutralität im 21. Jahrhundert sei zum Erliegen
gekommen.

Experte: Man muss Bevölkerung auf europäischen Beistandsfall
vorbereiten

Senn sieht darin ein Problem. In den vergangenen 20, 30 Jahren
hätten sich die wesentlichen Rahmenbedingungen der österreichischen
Außen- und Sicherheitspolitik geändert. „Wir haben es derzeit mit der
Situation zu tun, dass wir einerseits mit einer neoimperial
aggressiven Außenpolitik Russlands umgehen müssen und andererseits
mit dem Umstand, dass die Vereinigten Staaten als langer Garant
europäischer Sicherheit sich tendenziell von Europa entfernen“, sagt
Senn. Österreich sollte sich überlegen, wie man die Neutralität an
diese neuen Bedingungen anpassen könne. Dafür brauche es eine Debatte
in und mit der Öffentlichkeit, so der Wissenschaftler.

Auch der durch den EU-Beitritt in die österreichische Verfassung
aufgenommene Artikel 23j spielt hier eine Rolle. Er legt fest, dass
Österreich an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU
teilnimmt – laut Senn eine sehr weitreichende Bestimmung. Denn im
Fall, dass ein EU-Mitgliedstaat angegriffen wird, könnte Österreich
laut Gesetz „einiges tun, was vielleicht für den einen oder die
andere als unvereinbar scheint mit der Neutralität“. Man müsste mit
der Öffentlichkeit diskutieren und die Bevölkerung darauf
vorbereiten, welche Optionen Österreich hätte, wenn es zu einem
europäischen Beistandsfall kommen sollte, fordert Senn.

Neutralität in der österreichischen DNA

Die Daten zeigen: Neutralität ist fest in der Identität der
Österreicher:innen verankert. Martin Senn führt an der Universität
Innsbruck in Kooperation mit dem Außenministerium das “ Austrian
Foreign Policy Panel Project (AFP3) “ durch. Das Team erhebt in der
Langzeitstudie seit 2023 die Einstellungen der österreichischen
Bevölkerung zur Außen- und Sicherheitspolitik – und damit auch zur
Neutralität. Senn hat der Parlamentskorrespondenz die Daten der
dritten Befragungswelle vom Sommer 2025 zur Verfügung gestellt.

80 % der Befragten sehen die Neutralität demnach als Teil der
österreichischen Identität. Das liegt laut Senn daran, dass die
Neutralität Teil der politischen Erzählung ist, die in Österreich
seit 70 Jahren vermittelt wird. „Die Neutralität ist Teil des
Staatsbildungsprozesses der Zweiten Republik, sie ist ein
wesentlicher Teil der Erzählung, was Österreich nach 1945 und 1955
ist und wer wir sein wollen. Und sie ist auch Teil der Erzählung, wer
wir nicht sein wollen“, sagt der Politikwissenschaftler. Sie sei eine
Möglichkeit gewesen, einen klaren Trennstrich zur kriegerischen
Vergangenheit zu ziehen. In diesem Sinne sei in der Vergangenheit der
militärische Aspekt, also die bewaffnete Dimension der Neutralität,
eher an den Rand gedrängt worden. Die Politik habe sich stärker auf
Aspekte der Diplomatie konzentriert. Österreichs Neutralität war –
unter anderem durch den UNO-Betritt bereits im Jahr 1955 – von Beginn
an eine international orientierte und engagierte, erläutert Senn.

Stabiles Bekenntnis zur Neutralität mit Veränderungen bei den
Jungen

70 Jahre später fällt in den Daten auf: Jüngere Befragte sehen
Neutralität und Identität weniger stark verknüpft als ältere. 88 %
der Über-60-Jährigen stimmen der Neutralität als Identitätsmerkmal
zu, während es bei den 18- bis 29-Jährigen nur 65 % sind. Für Martin
Senn hängt das damit zusammen, dass die Neutralität in den
vergangenen 20 Jahren im öffentlichen Raum wenig präsent war. Seit
dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022
ändere sich das wieder. Doch vor der „Zeitenwende“ sei Krieg in der
öffentlichen Wahrnehmung ein Thema der Vergangenheit gewesen. „Wenn
Krieg der Vergangenheit angehört, ist auch die Neutralität wenig
relevant, weil sie immer im Bezug zu kriegerischen
Auseinandersetzungen steht“, sagt Senn. Die junge Generation sei in
den prägenden Jahren ihrer politischen Sozialisation dementsprechend
wenig mit der Neutralität in Berührung gekommen.

Trotz mancher Veränderungen gibt es dennoch eine solide Mehrheit
für die Beibehaltung der Neutralität in ihrer derzeitigen Form. 59 %
der Befragten sprechen sich dafür aus. 36 % würden sich eine
umfassendere Neutralität wünschen, 13 % sind für einen NATO-Betritt
und nur 9 % würden die Neutralität aufgeben wollen, ohne der NATO
beizutreten. Insgesamt konnte das Forschungsteam bei den Fragen zur
Neutralität eine Konstanz über die Jahre hinweg feststellen. „Das
Bekenntnis zur Neutralität ist stabil“, fasst Martin Senn zusammen.

Neutralität im Dilemma zwischen Ankerpunkt und Weiterentwicklung

Die Ergebnisse seiner Forschung zeigen für Senn, wie wirkmächtig
die Neutralität als „politischer Mythos“ ist. Ein politischer Mythos
ist ein Bezugspunkt für Gemeinschaften, eine Erzählung, die Halt
gibt. Er bietet Orientierung und ist vor allem wichtig, wenn die
Umgebung stark im Wandel ist.

Doch Senn sieht darin ein Dilemma. Denn einerseits gibt die
Erzählung über die Neutralität in der aktuellen Phase des Umbruchs
Halt, andererseits sollte sie genau jetzt auf den Prüfstand gestellt
und an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. „Das kann man
schwer unter einen Hut bringen“, sagt der Wissenschaftler. Er
plädiert dafür, anzuerkennen, dass Neutralität als Erzählung ein
wichtiger Ankerpunkt für die Gesellschaft ist. Davon ausgehend müsste
man behutsam vorgehen und mit der Bevölkerung gemeinsam überlegen, ob
und wie man die Neutralität fit für das 21. Jahrhundert machen kann.
Man sollte nicht über „Neutralität – ja oder nein“ oder „Neutral
bleiben oder der NATO beitreten“ diskutieren, so Senn.

Debatte über Neutralität könnte sie „erden und austarieren“

Würde man die Neutralitätsdebatte führen, würde sich in manchen
Fragen wohl wenig verändern, ist Martin Senn überzeugt. Die hohe
Zustimmung zur Neutralität als Teil der Identität und zu ihrer
Beibehaltung würde wahrscheinlich bestehen bleiben.

Aber bei gewissen Aspekten würde sich vielleicht die Wahrnehmung
ändern. Senn führt etwa die Überzeugung an, dass die Neutralität
Österreichs ein wichtiger Anziehungspunkt für internationale
Organisationen ist. 71 % der Befragten sind laut den jüngsten Daten
des AFP3 dieser Meinung. Dabei sind oft auch andere Faktoren wie
steuerliche Vergünstigungen, die Lage und die Verkehrsanbindung
ausschlaggebend dafür, warum sich internationale Organisationen in
Wien ansiedeln.

70 % der Befragten glauben außerdem, dass die Neutralität wichtig
für die Fähigkeit Österreichs ist, in internationalen Konflikten zu
vermitteln. Auch diese Werte könnten laut Senn sinken, wenn man eine
differenzierte Neutralitätsdebatte führen würde. Denn in der Praxis
spielen viele andere Faktoren – etwa die Expertise oder das
Vertrauen, das vermittelnden Staaten zugeschrieben wird – eine große
Rolle.

Insgesamt sollte man laut Senn die Neutralität erden und
austarieren. „Man muss die Neutralität also zunächst einmal auf den
Boden der Tatsachen zurückholen“, sagt er. Die Neutralität sei in der
Vergangenheit mit Wirkungen in Zusammenhang gebracht worden, die sie
nicht oder nicht mehr hatte, wie im Fall der Ansiedlung
internationaler Organisationen. Austarieren müsse man die Neutralität
laut Senn in zwei Richtungen. Zum einen sollte ihre militärische
Dimension, also die bewaffnete Neutralität, gestärkt werden. Zum
anderen müsse sie in Bezug zu europäischer Solidarität im Bereich von
Sicherheit und Verteidigung gesetzt werden.

Parlament als Ort für breite Diskussion

Das Parlament könnte laut dem Politikwissenschaftler einen
wichtigen Beitrag für die Debatte über Neutralität leisten. Die
Diskussion sollte aber nicht auf die Ebene von Politiker:innen oder
Expert:innen beschränkt sein. „Man muss die Debatte auf jeden Fall
auch hinaustragen in die Bevölkerung“, sagt Senn.

Das aktuelle Jubiläumsjahr biete dafür gute Anknüpfungspunkte.
Aber der Experte ist überzeugt, dass man die Fragen über das Gedenken
hinaus behandeln muss und insbesondere junge Menschen in die
Diskussion mit einbeziehen muss. Und das Wichtigste:
Sicherheitspolitik dürfe nicht auf die Neutralität reduziert werden.
Vielmehr müsse die Debatte über Neutralität ein Baustein einer
größeren Auseinandersetzung über Außen- und Sicherheitspolitik sein.
(Schluss) kar

HINWEISE: Fotos und Grafiken von Martin Senn und seiner Forschung
finden Sie im Webportal des Parlaments . Ein Fachdossier zur
österreichischen Neutralität und einen Blick ins Archiv mit
historischen Dokumenten finden Sie in den Fachinfos des Parlaments .
Auch eine Podcast-Folge mit dem Politikwissenschaftler Ralph Janik
beschäftigt sich mit der Neutralität.

Das Parlament beleuchtet 2025 drei Meilensteine der
Demokratiegeschichte. Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, vor
70 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet und vor 30 Jahren
trat Österreich der EU bei. Mehr Informationen zum Jahresschwerpunkt
2025 finden Sie unter www.parlament.gv.at/kriegsende-staatsvertrag-eu
-beitritt .